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Innovative Konzepte und Szenarien aus dem Lehrlabor

Sozialwissenschaftlich forschen in und mit der Hamburger Zivilgesellschaft

Beim Forschungsansatz “Community-based Research” wird die Gesellschaft aktiv und gleichberechtigt in die Forschung einbezogen, was einen beidseitigen Wissensaustausch befördert. Die Studierenden werden zu “professionell Handelnden” ausgebildet, indem sie ihr fachspezifisches Wissen adressatengerecht in die gesellschaftliche Praxis transferieren. Der zivilgesellschaftliche Partner dieses Forschungsseminars ist die Körber-Stiftung, zentrale Themen sind hier Inklusion, kulturelle Angebote für Senior*innen sowie Vernetzung von älteren Menschen.

Metadaten

  • Lehrende: Kea Glaß, Moritz Golombek, Kai-Uwe Schnapp
  • CC-Lizenz: CC-BY (Bearbeitung erlaubt unter Namensnennung)
  • Zitiervorschlag:
    Kea Glaß/Moritz Golombek/Kai-Uwe Schnapp (2021): Sozialwissenschaftlich forschen in und mit der Hamburger Zivilgesellschaft. Hamburg: StoryPool. URL:

Maßnahme

In diesem zweisemestrigen Forschungsseminar sollen die Studierenden ein gesamtes Forschungsprojekt eigenständig nach dem "Community-based Research"-Ansatz (CBR) durchführen und dabei mit einem Praxispartner aus der Hamburger Zivilgesellschaft in jedem Projektschritt kooperieren.
Um von Anfang an beobachtend zu begleiten, wie die im neuen „KörberHaus“ untergebrachten verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen zusammenwirken und interagieren und die Einrichtung zu einem „wirklichen“ Begegnungsort wird, trat die Körber-Stiftung mit der Idee einer evaluativen Forschung an das Projektbüro Angewandte Sozialforschung heran.
Bei der Begleitforschung steht die Frage im Fokus, wie Bürger*innen in Bergedorf gut gemeinsam alt werden können und wie das neue „KörberHaus“ dafür gestaltet werden muss. Dieser Fragestellung folgend beschäftigen sich drei Forschungsgruppen mit den Teilaspekten Inklusion, kulturellen Angeboten für Senior*innen sowie mit der Vernetzung von älteren Menschen.

Die Studierenden sollen einen Forschungsprozess von Anfang bis Ende eigenständig durchlaufen und dabei, entsprechend des CBR-Ansatzes, die Zivilgesellschaft (Community) in jeden Projektschritt einbinden. Inhaltlich finden die Projekte unter dem Themenkomplex „Gemeinsam gut alt werden in Bergedorf“ statt. Diese beiden Elemente sind die einzigen Bedingungen, die das Seminar an die Studierenden stellt. Abgesehen davon sollen sie im Rahmen dieses Seminars vollkommene Freiheit zum Forschen und Lernen erhalten, indem sie alle Projektentscheidungen eigenständig in Abstimmung mit der Community treffen.
Die Lehrperson steht den Studierenden dabei für die individuelle methodische Beratung und den gezielten Input von Fachwissen zur Seite. Für einen bedarfsgerechten Input wurde zu Beginn des Seminars eine methodische Selbsteinschätzung der Studierenden erhoben und darauf kurze fachliche Vorträge durch die Lehrende zugeschnitten. Insgesamt handelt es sich um ein sehr partizipatives Seminar, in dem die Teilnehmenden die Inhalte und Struktur selbst mitgestalten können.

Im ersten Semester fanden sich die Studierenden in Gruppen zusammen, erkundeten das Forschungsfeld und gewannen Praxispartner aus der Bergedorfer Bevölkerung für ihre Projektarbeit. Gemeinsam mit diesen gesellschaftlichen Akteur*innen konzipierten die Studierenden eine Forschungsfrage und wählten eine passende theoretische Grundlage, aus der sie entweder Hypothesen oder forschungsleitende Annahmen ableiteten. Weiterhin erarbeiteten sie in Abstimmung mit dem Praxispartner ein Forschungsdesign. Anschließend entwickelten sie Erhebungsinstrumente, die in einem Pretest geprüft und angepasst wurden. Die Datenerhebung war für die vorlesungsfreie Zeit und den Beginn des nächsten Semesters vorgesehen.
In der zweiten Hälfte des Seminars sollen die Forschungsgruppen die erhobenen Daten auswerten und in einem leicht verständlichen Forschungsbericht verschriftlichen. Bei diesem Bericht handelt es sich nicht um eine klassische Hausarbeit, sondern um eine adressatengerechte Darstellung der zentralen Ergebnisse des Projekts, der den Projektpartnern/der Zielgruppe zur Verfügung gestellt wird.
In einem weiteren Schritt sollen die Studierenden mit den von ihnen erarbeiteten Ergebnissen soziale Änderungsprozesse mitgestalten. Das heißt, dass sie gemeinsam mit der Community erarbeiten, was aus den Ergebnissen folgt, welche Maßnahmen/Programme entwickelt und umgesetzt werden können, um das gemeinsame Altwerden im „KörberHaus“ in Bergedorf zu fördern.

Verbindung zum klassischen Lehrformat:

  • Vorlesung
  • Seminar
  • Übung
  • Projekt
  • Praktikum
  • Prüfung
  • Selbststudium
  • Vorkurs
  • Sonstiges

Mit dieser Maßnahme werden primär gefördert:

  • Rezeptive Aktivitäten (Lesen, Anschauen, Zuhören)
  • Übende Aktivitäten (Ausprobieren, Routinebildung etc.)
  • Produktive Aktivitäten (Schaffung eigener Inhalte)
  • Organisatorische Aktivitäten (Koordination, Vernetzung etc.)

Rolle von digitalen Medien:

  • Keine nennenswerte Rolle (bspw. primär Präsenzlehre)
  • Eine gewisse bzw. mäßige Rolle (bspw. hybrides Lehrformat)
  • Eine zentrale Rolle (bspw. Online-Lehre)

Beziehung zur Forschung:

  • Forschung fließt als Inhalt ein (Studierende können sich zu Ergebnissen und/oder Prozessen des Forschens kundig machen)
  • Forschung ist das Ziel der Lehrmaßnahme (Studierende üben das Hand- und Denkwerkzeug für eigene Forschungsaktivitäten ein)
  • Forschung ist der Modus der Lehrmaßnahme (Studierende werden selbst forschend tätig)
  • Die Lehrmaßnahme dient dazu, die Voraussetzung für forschungsnahes Lernen zu schaffen.
  • Sonstige
  • Keine

Verortung im didaktischen Dreieck:

  • Inhalte für die Studierenden auswählen, anordnen, darstellen, erklären, (digital) aufbereiten, interaktiv machen etc.
  • Studierende methodisch darin unterstützen, sich Inhalte (allein oder in der Gruppe) anzueignen, zu verstehen, anzuwenden, weiterzuentwickeln, selbst zu generieren etc.
  • Als Lehrende*r mit den Studierenden in Kontakt kommen und in Interaktion treten (Feedback, Kommunikation etc.)
  • Die Lehrorganisation verändern, die für die Beziehung zwischen Inhalten, Studierenden und mir als Lehrende*r von Bedeutung ist

Grund

Neben der Anwendung und Vertiefung sozialwissenschaftlicher Methodenkenntnisse sollen die Studierenden praktische Erfahrungen sammeln, die über den klassischen Praxisbezug, wie bspw. das Einbringen von Praxisbeispielen, hinausgehen.
Der gewählte Forschungsansatz "Community-based Research" (CBR) befördert dabei die forschende Grundhaltung der Studierenden, indem er besonders viel Raum für eigenständige Forschung lässt.
Durch die Anwendung von disziplinspezifischem Fachwissen in der Praxis wird die Ausbildung der Studierenden zu „professionell Handelnden“ aktiv befördert. Als Mittler zwischen wissenschaftlichen Theorien und Methoden auf der einen und der gesellschaftlichen Praxis auf der anderen Seite erlangen sie eine Vielzahl von berufsrelevanten Fähigkeiten, wie beispielsweise Zeitmanagement, Konfliktfähigkeit und Kommunikationskompetenzen. All diese Fertigkeiten tragen dazu bei, die Beschäftigungsfähigkeit (employability) der Studierenden zu erhöhen, wie es auch eines der politischen Leitziele der Bologna-Reform vorsieht.
Durch die Einbindung der Zivilgesellschaft in jeden Forschungsschritt wird zudem ein aktiver beidseitiger Wissensaustausch zwischen Universität und Gesellschaft ermöglicht, wie es die „Third Mission“ der Hochschulen vorsieht.

Grund für die Entwicklung:

  • Akutes Defizit bzw. akuter Konflikt
  • Bestehendes bzw. strukturelles Problem
  • Vorweggenommene Herausforderung
  • Persönliches professionelles Anliegen
  • Impuls aus meinem Umfeld
  • Sonstiges

Kontext

Das hier vorgestellte Lehrkonzept wurde in einem zweisemestrigen Seminar in den Bachelor- und Masterstudiengängen der Soziologie und Politikwissenschaft mit der Körber-Stiftung als Praxispartner erprobt. Insgesamt werden 12 Leistungspunkte (CP) vergeben.
Ursprünglich war das Seminar ausschließlich für Masterstudierende vorgesehen, es wurde jedoch aufgrund einer zu geringen Anmeldezahl auch für Bachelorstudierende geöffnet. Insgesamt 12 Teilnehmende arbeiten in drei Arbeitsgruppen zusammen.
Für alle Studierenden besteht in jeder Sitzung Anwesenheitspflicht. Die Gruppen müssen zwei mündliche Meilensteinberichte zum aktuellen Stand ihres Projekts vorstellen. Jeder Meilensteinbericht geht mit je 15% in die Endnote ein. Die Gruppen-Hausarbeit macht 70% der Gesamtnote aus und soll das methodische Vorgehen der Forschungsgruppe ausführlich darlegen.

Diese Maßnahme wurde mit Mitteln des BMBF unter dem Förderkennzeichen 01PL17033 im Rahmen des Lehrlabors (Universitätskolleg, Universität Hamburg) entwickelt. Kea Glaß wurde im Jahr 2020 für die Entwicklung dieses Lehrkonzepts mit dem Hamburger Lehrpreis ausgezeichnet.

Projekttitel: "Community-based Research in der sozialwissenschaftlichen Methodenausbildung"
Förderzeitraum: 01.04.2018–31.03.2019

Meine Maßnahme ist entstanden und hat sich bewährt an einer:

  • Universität
  • Fachhochschule
  • Dualen Hochschule
  • Pädagogischen Hochschule
  • Sonstiges

Meine Maßnahme ist in folgender Disziplin (oder mehreren) zu verorten:

  • Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften
  • Ingenieurwissenschaften
  • Wirtschafts- und Sozialwissenschaften
  • Geisteswissenschaften
  • Lehrerbildung
  • Rechtswissenschaften
  • Kunst, Design-Wissenschaften
  • Medizin (inkl. Gesundheitswissenschaften)
  • Interdisziplinäre Bereiche
  • Sonstiges

Primäre Zielgruppe meiner Maßnahme:

  • Studieninteressierte
  • Studienanfänger*innen
  • Fortgeschrittene Studierende im Bachelor (oder 1. Studienabschnitt)
  • Studierende am Ende des Bachelorstudiums (oder 1. Studienabschnitts)
  • Studierende im Masterstudium (oder 2. Studienabschnitt)
  • Doktoranden oder Postdocs

Kräfte

Anders als in der herkömmlichen Forschung wird im US-amerikanischen Forschungsansatz "Community-based Research" nicht über gesellschaftliche Gruppen geforscht, sondern gemeinsam und partnerschaftlich mit diesen Gruppen. Damit wird ein beidseitiger Wissensaustausch befördert, der nicht nur die Qualität der Forschungsergebnisse steigern kann, sondern Studierenden auch tiefe Praxiseinblicke ermöglicht und das Ziel verfolgt, soziale Änderungsprozesse zu gestalten.

Sozialwissenschaftliche Studiengänge verfügen über vergleichsweise weniger klar strukturierte Berufsbilder. Aus diesem Grund ist es umso wichtiger, dass Studierende der Sozialwissenschaften neben ihrem Fachwissen auch diverse berufsrelevante Kompetenzen erwerben, um auf dem Arbeitsmarkt bestehen zu können.

Widersprüchliche Anforderungen, die bei der Maßnahme eine Rolle spielen:

  • Selbst- und Fremdorganisation
  • Lernen durch Zuhören/Lesen/Zusehen und Lernen durch eigenes Tun
  • Analoge und digitale Erfahrungswelten
  • Individuelles und soziales Lernen
  • Fachliche und überfachliche Kompetenzentwicklung
  • Exemplarische und vollständige Lerninhalte
  • Fachsystematische und lernsystematische Vorgehensweisen
  • Sonstige
  • Keine

Wirkungen

- Die Studierenden werden durch die Zusammenarbeit mit der Community in ihrer Kommunikation und ihrem Zeitmanagement gestärkt.
- Sie lernen, fachspezifisches Wissen adressatengerecht zu formulieren, sodass es auch für Menschen außerhalb der Universität zugänglich ist.
- Viele Studierende haben ihr Methodenwissen durch die kurzen gezielten Inputs der Lehrenden auffrischen können.
- Die Interdisziplinarität sowie unterschiedliche Erfahrungsniveaus der Teilnehmenden führen zu einer angenehmen Lernatmosphäre.
- In den Forschungsgruppen treffen auch Mitglieder der Community aufeinander, die andernfalls keinen Kontakt gehabt hätten.
- Die Forschungsarbeit ist mit einem enormen Zeitaufwand verbunden, u.a. bedingt durch die Lage der Community am Stadtrand.
- Die Studierenden empfanden die Akquise von Co-Forschenden als aufwendigen und nervenaufreibenden Prozess.
- Für manche Gruppen bestand eine große Herausforderung darin, erst einmal Community-Mitglieder für die Mitarbeit zu finden.
- Dieser anfängliche Prozess war deutlich zeitintensiver als angenommen, weshalb die Studierenden unter großem Druck standen, auch die Berichte noch im gegebenen Zeitrahmen zu bewältigen. Dies sollte zukünftig in der Seminarplanung berücksichtigt werden.
- Auf Wunsch der Studierenden wurde das Seminar um ein Semester verlängert.

Weiterführende Informationen

Literatur

Ludwig, Joachim (2012): Studieneingangsphasen als Professionalitätsproblem. In: Kossack/Lehmann/Ludwig (Hrsg.): Die Studieneingangsphase. Analyse, Gestaltung und Entwicklung. Bielefeld: Universitätsverlag Webler, Seite 45-57.

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